Jeder Mensch hat verschiedene Distanzzonen. Wie du es schaffst, mit deiner Kamera im Rahmen von Portraits und Reportagen in die persönliche und vielleicht sogar in die intime Distanzzone vorzudringen, verrate ich dir in diesem Beitrag.

„Common Sense“

Immer wieder werde ich gefragt, wie ich die Nähe erreiche, die viele meiner Reportagebilder ausstrahlen. Die Fragenden erwarten eine hochtrabende, komplizierte Antwort. Dabei ist es oftmals ganz einfach: Sei nett und höflich, interessiere dich. Sprich mit den Menschen, die vor deiner Kamera stehen, finde gemeinsame Themen, über die du dich mit ihnen unterhalten kannst. Vielleicht schaffst du es sogar, zusätzlich zum entstehenden Bild, einen Mehrwert für sie zu schaffen.

Distanzzonen

Natürlich ist ein solches Vorgehen keine Garantie dafür, dass dein Gegenüber dich sprichtwörtlich oder physisch nah an sich heranlässt. Jeder Mensch hat verschiedene Distanzzonen. Manche wirst du überwinden, andere vielleicht nicht. Letzteres ist gar nicht schlimm. Nicht für jedes Bild musst du mit der Kamera bis auf zwei Zentimeter an dein Gegenüber heranrücken. Wichtig ist, dass du im Kopf hast, was für ein Ergebnis du erzielen möchtest – und dass du verstehst, wie die Distanzzonen aufgebaut sind.

Exkurs: Distanzzonen

Öffentliche Distanzzone

Etwa dreieinhalb Meter Distanz lassen wir zwischen uns und uns unbekannten Menschen im öffentlichen Raum, wenn wir es vermeiden können, ihnen näher zu kommen. Wird diese Grenze unterschritten, nehmen wir automatisch Notiz von diesen Menschen und schätzen ab, ob sie eine Gefahr für uns sein könnten.

Soziale Distanzzone

Soziale Interaktion mit weniger vertrauten Menschen findet oftmals in einer Entfernung von einem bis dreieinhalb Metern statt. Innerhalb dieses Bereichs finden in der Regel offizielle Gespräche, beispielsweise Bewerbungsgespräche statt.

Persönliche Distanzzone

Von einem halben bis zu einem ganzen Meter beträgt der Radius der persönlichen Distanzzone. Dieser Abstand ist typisch für Gespräche mit vertrauten Menschen.

Intime Distanzzone

Alles zwischen einem halben Meter und Körperkontakt ist für uns ein intimer Bereich. Innerhalb dieser Zone agieren wir überwiegend mit Freunden, Familie und Partnern. Das Eindringen von Fremden in diesen Radius empfinden wir in der Regel als unangenehm.

Kulturelle Unterschiede

Je nach Background unterscheiden sich diese Distanzzonen, weshalb oben keine fixen Zahlen genannt sind. In Europa beträgt die persönliche Distanzzone tendenziell einen Meter, während in Asien, wo man generell von mehr Menschen im Alltag umgeben ist und die Abstände geringer sind, ein halber Meter gängiger ist.

Differenzierung: Studio vs. Reportage

Studio

Anhand der oben aufgezählten Distanzzonen ist dir sicherlich schon klar geworden, es braucht eine gewisse Zeit um das nötige Vertrauen aufzubauen, damit du in die intime Distanzzone vordringen kannst. Davon ausgehend, dass du in der Situation eines Portrait-Shootings oder einer anderweitig kontrollierbaren Situation bist, kannst du dir diese Zeit nehmen. Vielleicht braucht es sogar einen zweiten Termin, um zu den Ergebnissen zu gelangen, die du geplant hattest. Ein Beispiel, bei dem dies nicht unüblich ist, sind (Teil-)Akt-Shootings. Ihnen geht vielfach ein Portrait-Shooting oder ähnliches voraus, um „das Eis zu brechen“.

Reportage

Bei einer klassischen Reportage lassen sich Situationen nicht wiederholen. Jedoch gibt es auch hier Mittel und Wege, Vertrauen zu bilden.

Hochzeiten

Schauen wir uns eine Hochzeitsreportage an, so ist das Brautpaar die vertrauensbildende Maßnahme für die Gäste, wenn man so will. Es hat dich als Fotografen bestellt, bestenfalls die Gäste vorab über dein Erscheinen informiert und stellt dich am Tag der Hochzeit dem „harten Kern“ vor. Vielleicht im Rahmen des „Getting Ready“ von Braut und Bräutigam, wo Trauzeugen und Freunde anwesend sind, vielleicht beim Eintreffen am Standesamt. So wirst du zum natürlichen Teil der Gruppe und die Gäste begegnen dir bestenfalls entspannter.

Events allgemein

Veranstalter arbeiten bei Events oftmals mit sogenannten „Badges“, um Zugänge zu regeln. Sie plausibilisieren deine Anwesenheit für die Besucher, andere Gewerke wie Security,… Es ist sofort klar, du bist im Auftrag vom Veranstalter, Künstler oder wem auch immer vor Ort und machst deinen Job. Einerseits öffnet dir das sprichwörtlich Türen, andererseits akzeptieren dich die Gäste so und lassen dich oftmals automatisch näher an sich heran.

Die Bedeutung von Zeit

Selbstverständlich wird dir nach fünf Sekunden nicht das Vertrauen geschenkt, wie es nach einer einstündigen Portrait-Session der Fall sein dürfte. Das beste Mittel, um wirkliche Nähe zu erzielen, ist und bleibt eines: Zeit. Hast du von diesem Luxusgut nicht ausreichend, sei dir stets über die verschiedenen Distanzzonen im Klaren und vermeide notfalls unnötiges Eindringen in den persönlichen oder intimen Bereich.

In einem anderen Beitrag hatte ich bereits angerissen, wie W. Eugene Smith bei seiner bekannten Reportage „Country Doctor“ vorgegangen ist, um das Vertrauen seines Protagonisten zu gewinnen. Ich kann nur erneut empfehlen, sich diese Reportage genauer anzuschauen um zu erahnen, mit welcher Empathie Smith dem Landarzt begegnet sein muss. Er war sich bewusst welcher Störfaktor er war und bemühte sich redlich, zur sprichwörtlichen „Fliege an der Wand“ zu werden, um die „echten“ Momente einfangen zu können.

In der heutigen Magazinfotografie spielt eine längere Verweildauer des Fotografen an einem einzigen Ort kaum noch eine Rolle. Dieses Vorgehensweise ist, angesichts der rückläufigen Verkaufszahlen von Printmedien, schlicht zu teuer geworden. Doch auch heute noch gibt es einige „Dinosaurier“, die ihre Werke über einen langen Zeitraum erstellen. Prominente Beispiele sind Sebastião Salgado, dessen Schaffen sich grob in Dekaden einteilen lässt oder der Isländer Ragnar Axellson. Axellson fängt seit Jahrzehnten Momente aus arktischen Gebieten, insbesondere aus Grönland ein.

Beispiel: Urban Sketchers

Ich beendete kürzlich ein Projekt, bei dem es um das Zeichnen „echter Momente“ im urbanen Raum ging. Konkret handelte es sich dabei um die Begleitung des Deutschlandtreffens der Urban Sketcher, bei dem etwa 200 Sketcher in Dortmund zusammenkamen und einen Querschnitt des Stadtgebiets künstlerisch einfingen.

Die Umstände wollten es, dass ich um diese fotografische Aufgabe bereits Monate im Voraus wusste und beispielsweise die Pressefotos für die Urban Sketcher erstellte. Zwischen besagten Fotos und dem Deutschlandtreffen lagen rund drei Monate, die ich für wiederkehrende Besuche bei den wöchentlichen Sketchwalks in der Dortmunder Innenstadt nutzte.

Erstkontakt

Sketchwalk im Dortmunder Rosenviertel
Sketchwalk im Dortmunder Rosenviertel – kein fotografisches Meisterwerk, jedoch wunderbar als Establisher für die Szene.

Bei meinem ersten Begleiten der Gruppe im Juni verschaffte ich mir lediglich einen Eindruck davon, wie ein solcher Sketchwalk aussieht, welche Motive sich die Sketcher aussuchten und was die offensichtlichen Standardfotos waren, die es – zumindest ein Stück weit – zu vermeiden galt. Fotografisch sind die Ergebnisse weder zahlreich noch der Rede wert, doch sie halfen mir im weiteren Verlauf.

An solchen Stellen ist zu beachten, jeder schießt heutzutage Fotos. Die Sketcher sind keine Ausnahme. Durch meine lokale Recherche kam zutage, dass die Sketcher vielfach die große Tiefenschärfe und das Weitwinkel ihres Smartphones verwendeten, um in einem Foto ihr Werk und im Hintergrund das „Original“ in einer Aufnahme zu zeigen. Meine Idee, solche Fotos zu machen, legte ich kurzerhand ad acta, nachdem ich mittels Online-Recherche verifizierte, dass dies gängige Praxis unter den Sketchern ist.

Weiterhin wurde mir klar, die Sketcher sind weniger auf „besondere Orte“ angewiesen, als es für manche Fotografen gelten mag. Sie können Baustellen weglassen, Lichstimmungen verändern, vereinfachen, akzentuieren. Beispielsweise fing ein Sketcher exklusiv den Baum an der Straßenecke (links im Bild) ein, ohne weitere Umgebung.

Zweitkontakt

Beim zweiten Treffen wurde ich teils strahlend begrüßt, einige hatten sich sogar meinen Namen gemerkt. Entsprechend freier agierte ich, verringerte die Distanz. Wobei ich stets ankündigte, wenn ich wirklich nah kam, so dass niemand erschrak und man mich jederzeit hätte wegschicken können. Das mache ich fast immer so, nicht bloß in Zeiten einer Pandemie, wo Nähe noch einmal andere Probleme mit sich bringen könnte.

Ich griff mir einzelne Personen aus der Gruppe heraus, bei denen ich Das Gefühl hatte, sie würden mich innerhalb ihrer persönlichen und/oder intimen Distanzzone tolerieren. Dabei halte ich in der Regel Ausschau nach solchen Menschenn, die einen offenen und/oder extrovertierten Eindruck machen. So kreierte ich Fotos, die ein ganz anderes Feeling von Nähe vermittelten, als es die ersten Testnaufnahmen aus dem Rosenviertel vermochten.

Gleichzeitig fotografierte ich Details, die mich nicht unbedingt interessierten. Dadurch gönnte ich meinen Protagonisten allerdings eine Entspannungsphase, in der sie sich ganz unbedarft bewegen und zeichnen konnten. Manchmal setzte ich mich einige Minuten dazu, führte Smalltalk und schaffte so zusätzliches Vertrauen, wenn ich das Gefühl hatte, das sei vor dem Fotografieren notwendig.

Schöner Nebeneffekt: Einzelne Aufnahmen aus dieser Reihe wurden von den Sketchern für die Bewerbung der Veranstaltung in der Lokalpresse verwendet.

Drittkontakt

Durch den Umstand, dass meine Fotos der zweiten Session unter den Dortmunder Sketchern die Runde gemacht hatten, wuchs das Vertrauen in mich noch einmal. Entsprechend frei agierte ich einen Tag vor dem Deutschlandtreffen. Beim wöchentlichen Sketchwalk waren bereits einige früher angereiste Teilnehmer des Treffens zugegen, so dass eine recht große Gruppe entstand.

Ich konzentrierte mich wieder überwiegend auf die Dortmunder Gruppe, die mich schon kannte. Um die Bildanzahl überschaubar zu halten, siehst du oben exemplarisch eine Serie, die den Schaffensprozess von Pascal abbildet und einen Eindruck vom kreativen Austausch untereinander vermittelt.

Anschließend veröffentlichte ich die entstandenen Fotos taggleich in der Facebook-Gruppe der Dortmunder Sketcher. Eine weiter vertrauensbildende Maßnahme für das anstehende Wochenende. Und seien wir ehrlich, das umgehende Lob – in Form von Kommentaren – tat meiner Motivation gut und zeigte, ich bin fotografisch auf dem richtigen Weg.

Fazit

Hast du wenig Zeit, vermittle deinem Gegenüber schnellstmöglich, dass du vertrauenswürdig bist, um in die persönliche (<1m) oder intime (<0,5m) Distanzzone vorzudringen und mit kurzen Brennweite beim Betrachter das Gefühl von Nähe zu erzeugen. Nutze dabei alle Möglichkeiten, angefangen bei einem netten Lächeln oder ein paar schnellen Worten, endend bei Hilfsmitteln wie Badge, Presseausweis oder ähnlichem.

Hast du die Gelegenheit, dich im Vorfeld als Mitglied einer geschlossenen Gruppe zu etablieren, nutze sie. Mir hat es bei den Sketchern geholfen, das Orga-Team vorab kennenzulernen. Beim Portrait-Shooting war noch ein wenig Distanz zu spüren, im weiteren Verlauf zeigten sich die Orgas jedoch äußerst hilfsbereit und wiesen mich zum Beispiel wiederholt auf Foto-Gelegenheiten hin, die ich ansonsten verpasst hätte.

Besonders beeindruckend und immersiv wirken solche Werke, die sich über einen langen Zeitraum einem einzelnen Thema widmen. Wie es dir gelingen kann, eine solche Gelegenheit zu finden, und welche Faktoren noch zu einer erfolgreichen Bearbeitung des Themas beitragen können, kannst du in einem anderen meiner Blogbeiträge nachlesen. Darin erkläre ich unter anderem, warum der nächste Urlaub vielleicht nicht der beste Ort für dein künftiges Projekt sein könnte.

Ich wünsche dir gutes Gelingen für dein nächstes Foto-Projekt!

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